Der Tag X














Die letzte Reise


Fünf Monate ist es jetzt her, dass Frank mich gebeten hat, ihn auf seine letzte Reise zu begleiten. Damals war er überzeugt, dass er Weihnachten nicht mehr bei uns ist. Tatsächlich hatten wir im Dezember bereits einen Termin in Zürich. Diesen hat Dignitas jedoch abgesagt, weil der "Andrang" vor Weihnachten zu groß war. Also haben wir einen neuen Termin für Mitte Januar vereinbart. Ich glaube er war froh darüber, gab ihm das doch noch etwas Zeit, sich mental darauf vorzubereiten. Wir haben viele Nächte zusammengesessen und darüber gesprochen, wie es sein wird und was danach kommt. Er hatte keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben. Nicht die Tatsache an sich, sondern eher das "Wie" beunruhigte ihn.

Als der Termin näher rückte, machte sich Frank Gedanken darüber, ob ich es physisch schaffen würde, allein mit ihm zu fahren. Seine Arme und Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen, und obwohl er sehr viel abgenommen hatte, war er doch noch immer ein ganz schöner Hüne. Ich bin sehr froh, dass er Maikes Angebot, uns zu begleiten angenommen hat.

So machen wir uns also am Freitag, 16. Januar zu dritt auf den Weg nach Zürich. Im Kofferraum steht ein Rollstuhl, den Frank jetzt zum ersten Mal benutzen wird, denn bisher hat er sich immer vehemment geweigert, auf das Ding zurückzugreifen. Die letzten Nächte haben wir alle nicht viel geschlafen, und die Tatsache, dass an diesem Morgen um 4.15 Uhr der Wecker klingelt, macht die Sache nicht besser. So wird es eine recht ruhige Fahrt. Jeder hängt ein wenig seinen Gedanken nach, und Frank fallen ab und zu die Augen zu.

Nachdem wir in unserem Hotel eingecheckt haben, fahren wir in die Wohnung von Dignitas, wo Frank einen Termin mit dem Arzt hat, der ihm das Rezept ausstellen soll. Frank ist furchtbar verärgert darüber, dass der Arzt nicht zu uns in Hotel gekommen ist. Nachdem wir durch die halbe Stadt geeiert sind, uns mit dem Rollstuhl in den viel zu kleinen Fahrstuhl gequetscht haben, um endlich in der Wohnung im vierten Stock anzukommen, macht er diesem Ärger Luft. Der Arzt war sehr überrascht und sagt, es wäre überhaupt kein Problem für ihn gewesen, zu uns ins Hotel zu kommen. Die Mitarbeiterin von Dignitas jedoch war total empört und meinte, es könne doch wohl niemand von ihr verlangen, bis ans andere Ende der Stadt zu fahren. Franks Kommentar dazu war: "Och, Sie Arme, Sie tun mir aber leid!"

Nachdem der Arzt Frank ein paar Fragen gestellt hat, musste er noch beweisen, dass er noch selbständig in der Lage ist zu trinken. Auf die Frage, ob er lieber Wasser oder Tee hätte, bestellte er sich prompt ein Bier - typisch Frank.

Zurück im Hotel setzen wir uns gemütlich an den Tisch in unserem Zimmer und machen erstmal eine Brotzeit. Leider haben wir im Hotel keinen Internetanschluß, also machen wir uns am Abend nochmal auf den Weg in ein Internetcafé, damit Frank die neuesten Einträge in seinem Gästebuch lesen kann. Beim Lesen hat er einen richtigen Kloß im Hals, und als dann Benni und Richard anrufen, kullern dem sonst so starken Frank Tränen über die Wangen.

Als wir wieder im Hotelzimmer sind, machen wir uns erstmal eine schöne Flasche Rotwein auf. Frank besteht darauf, uns seine Grabrede zu diktieren, denn er findet es furchtbar, was auf manchen Beerdigungen für ein Stuss erzählt wird. Gegen vier Uhr morgens ist er mit dem Ergebnis zufrieden, und wir versuchen alle, ein wenig Schlaf zu erhaschen.

Als ich am nächsten Morgen erwache, ist mein erster Gedanke‚ heute ist Tag X'! Frank schläft noch tief und fest. Er hat ein verschmitztes Grinsen im Gesicht. Wahrscheinlich träumt er gerade, daß er ein Schaf für die nächste Grillfete klaut. Aber auch der schönste Traum ist irgendwann vorüber...

Frank besteht darauf, seine Lederhose anzuziehen, schließlich muss er ja cool aussehen. Sie schlabbert ein wenig um seine Hüften, aber wir ziehen den Gürtel einfach ein bißchen enger. Dann machen wir uns auf den Weg in die Gertrudstrasse. Das bedeutet wieder mühsam vom Rollstuhl ins Auto krabbeln, durch halb Zürich fahren, wieder in den Rollstuhl, dann raus aus dem Rollstuhl, um die paar Treppen vor dem Haus zu überwinden, rein in den Rollstuhl, die Fussteile ab, denn sie passen nicht mit in den viel zu kleinen Fahrstuhl...In der Wohnung angekommen, müssen wir alle erstmal ein wenig verschnaufen. Frank beschreibt die Wohnung übrigens so: "Die Übergardinen sind von einem betörenden nikotingelb und auch der Rest der Lokalität vermittelt den Eindruck einer heruntergekommenen Sozialwohnung der 70er Jahre."

Dann steht uns wieder eine Begegnung mit der unangenehmen Frau Wernli bevor, die die organisatorischen Dinge klärt. Franks Kommentar zu der Dame: "Eine total unsensible, für ihre Tätigkeit vollkommen ungeeignete Person, die sich gebärdet wie eine genervte Kellnerin kurz vor Feierabend in einer mittelmäßigen Spelunke."

Nachdem nun alles geklärt ist, bleiben wir drei mit dem Begleiter zurück. Er ist eigentlich ganz nett, aber man merkt ihm irgendwie an, daß er diese Tätigkeit nur nebenberuflich ausführt. Er macht halt seine Arbeit, aber zumindest gibt er sich Mühe.

Zuerst bekommt Frank ein Mittel gegen Brechreiz verabreicht, das erst nach einer halben Stunde seine Wirkung tut. Danach könne Frank den Zeitpunkt der Einnahme des eigentlichen Medikamentes selbst bestimmen. Ignaz meint, es sei auch kein Problem, wenn wir heute Abend noch hier zusammensitzen. Frank jedoch wird schon vor Ablauf der halben Stunde ungeduldig und fragt, wann es denn endlich soweit sei. Als die halbe Stunde vergangen war, sagte Ignaz, dass er ab jetzt nur noch auf Frank's Kommando warte. Frank's Kommentar dazu war: "Her damit!" Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern nimmt er das Glas und trinkt es bis zum letzten Tropfen aus, was wirklich erstaunlich ist, denn in den letzten Monaten konnte er nur aus ganz vollen Gläsern trinken und der letzte Rest blieb immer im Glas. Er hatte seine ganze Kraft zusammengenommen. Jetzt schnell einen Schluck Tee hinterher. Frank's letzte Worte "Das schmeckt vielleicht scheiße". Nicht einmal zwei Minuten später war er fest eingeschlafen. Er hat nicht mal gemerkt, dass wir ihn aus dem Rollstuhl auf's Bett gelegt haben. Da liegt er nun frieflich schlafend. Maike und ich sitzen an seinem Bett und beobachten, wie sich sein Brustkorb auf und ab bewegt.

Frank hat sich gewünscht, daß ein kein "Rumgeheule" gibt. Die ganze Zeit über haben wir diesem Wunsch tapfer Rechnung getragen, doch jetzt bricht es aus uns heraus und wir können die Tränen nicht mehr halten. Frank kann unsere Tränen nicht sehen, er schläft. Irgendwann hört sein Herz auf zu schlagen. Aber er liegt noch immer da, als wenn er schläft, und noch immer hat er ein Lächeln auf den Lippen.

Wir versuchen, uns gegenseitig zu trösten. Dann werden wir etwas abgelenkt. Die Wohnung füllt sich mit Polizisten, Amtsärzten und Gerichtsmedizinern. Nachdem es ein wenig Verwirrung über unser Verhältnis zu Frank gegeben hat, stellen uns die Polizisten noch ein paar Fragen und verabschieden sich wieder. Zum Glück findet ausgerechnet heute eine Antiglobalisierungsdemonstration in Zürich statt, so daß die Polizei sich wichtigeren Dingen widmen muß und für uns wenig Zeit hat. Der Amtsarzt bestätigt noch mal offiziell den Tod und die Gerichtsmedizin untersucht Frank auf äußere Verletzungen. Seine Lederjacke haben wir vorher in Sicherheit gebracht, denn Frank hatte uns ausdrücklich darum gebeten, dafür Sorge zu tragen, daß "Quincy" die Jacke nicht in die Finger bekommt.

Wir warten mit Ignaz in der Küche und sind sehr froh, dass er im Kühlschrank noch ein Bier für uns findet. Ignaz sagt, wir können jetzt eine Bezugsperson anrufen. Ich bin erleichtert, daß Maike diesen Part übernimmt. Ich hätte jetzt unmöglich mit seinen Eltern sprechen können. Nachdem sich auch die Gerichtsmedizinerin verabschiedet hat, tragen dunkelgekleidete Männer einen wunderschönen weißen Sarg herein. Ich dachte immer, nur Kinder bekommen einen weißen Sarg, aber Frank hat sich ja bis zum Schluß seine Kindlichkeit bewahrt.

Jetzt können auch wir gehen. Nur wohin? Wir beschließen, erstmal so schnell wie möglich aus der Schweiz rauszukommen. Zum Glück finden wir noch ein Bier im Auto. Ich schütte mir die Hälfte in meinen Kaffeebecher, schließlich bin ich ja der Fahrer und kann schlecht mit einer Flasche am Hals durch Zürich fahren.

Wir haben beide nicht das Bedürfnis, nach Hause zu fahren, also ruft Maike ihre Freundin Claudia in Freiburg an und bittet um Asyl für uns. Die liebe Claudia holt uns an einer Raststätte ab, und wir fühlen uns gleich heimisch bei ihr. Ihr Mitbewohner Guido ist auch sehr lieb und stellt uns seine Biervorräte und seine Couch zu Verfügung. Vor gar nicht allzulanger Zeit hat uns Frank noch einen Vortrag gehalten, dass Alkohol ein Genussmittel ist und nicht dazu genutzt werden sollte, seinen Kummer zu ertränken, aber es gibt einfach Momente, da rückt der Genuß in den Hintergrund.


Friedwald



Frank hatte eine genaue Vorstellung davon, was nach seinem Ableben passieren sollte. Einen Großteil hat er selbst organisiert, den Rest haben Maike und ich übernommen. Auf die Frage, wie er sich seine Trauerfeier vorstellt, hat er immer gesagt "Ihr sollt nicht trauern, trinkt einfach einen auf mich." Also haben wir seine Familie und all seine Freunde und Bekannten zusammengetrommelt und mit ihnen auf Frank angestoßen. Ihr wißt ja: :

"Wer Wrangler liebt und Einigkeit, der trinkt auch mal ne Kleinigkeit!"

Fredo hat uns freundlicherweise an einem Samstagabend seine Kneipe überlassen. Viele Menschen haben lange Wege auf sich genommen, um an diesem Abend dabeizusein. Selbst sein alter Freund Eiche kam aus Afrika angereist. Sicherlich hatte er andere Gründe nach Deutschland zu kommen, aber ich fand es sehr schön, dass er an diesem Abend da war. Frank hätte es sicher toll gefunden, zu sehen, wie gut sich seine teilweise doch sehr unterschiedlichen Freunde verstehen. Ich bin überzeugt, dass sich einige Leute an diesem Abend vielleicht zum ersten Mal, jedoch nicht zum letzten Mal begegnet sind.

Am 6. Februar 2004 findet Frank's Beisetzung im Friedwald statt. Es ist genau, wie er es sich vorgestellt hat. Seine Kinder, seine Familie und seine engsten Freunde stehen mit einem Glas Rotwein an seinem Baum und jeder fühlt seine imaginäre Gegenwart.



Das einzige, worüber er sich wahrscheinlich aufgeregt hätte, war der gekünstelte Tonfall, mit der Frau Schneider seinen Abschiedsbrief zelebrierte. Aber schließlich kommt es ja auf den Inhalt an. Jeder legt eine rote Rose an den Baum, einige zwei oder drei für die, die an diesem Tag nur in Gedanken dabei sein konnten. Die drei weissen Rosen der Kinder bilden einen schönen Kontrast. Katrin hätte ja lieber eine Sonnenblume gehabt, aber das ist im Winter ein wenig schwierig. Die bekommt er dann einfach zur Sonnenblumenblüte.



Frank hat sich den schönsten Baum im ganzen Friedwald ausgesucht, und als wir zurück zum Parkplatz gehen, kommt uns ein Hund entgegen, der genau wie Apoll aussieht. Selbst seine eigenen Hühner hat Frank hier im Wald, und nicht irgendwelche sondern wunderschöne Pfauen, die voller Stolz ihr Rad schlagen.

Frank ist an diesem Tag wie die Sonne, - verborgen, aber gegenwärtig.




Abschiedsbrief

Hallo meine Lieben,

Ich denke gerade darüber nach, wie es wohl sein wird, wenn Ihr um meinen Baum herumsteht. Ich habe dieses Bild in den letzten Tagen öfter vor Augen gehabt.

Meine Gefühle dabei waren nicht negativ, ich empfand keine Trauer. Nein, ich sah mich in dieser Szene wie einen stillen Beobachter.

Ich sah meine Kinder, Maike, Peggy, Simone, Susanne, Körnchen, Birgit, Steffi und Euch anderen mit einem Glas Wein in der Hand, wie Ihr lebhaft durcheinander schnabbelt und Euch über lustige Begebenheiten unterhaltet, welche wir mal zusammen erlebt haben.

Die letzten 18 Monate meines Lebens vergingen wie im Zeitraffer, und so komisches es auch klingen mag, diese 1 ½ Jahre waren wunderbar, und das aus vielerlei Gründen.
Ich habe in dieser Zeit unnützen Ballast abgeworfen, mein Blick für das Wesentliche wurde geschärft, ich habe einige neue Freundschaften geschlossen und bereits bestehende neu erfunden.

Nie hätte ich vermutet, dass ich gehandikapt wie ich war so viel Spaß haben könnte.

Es verging kaum ein Tag, an dem ich keinen Besuch, nicht mindestens fünf E- Mails und mehrere Anrufe hatte. Dafür möchte ich Euch aus tiefster Seele danken.

Also, um es auf den Punkt zu bringen, ich war trotz meiner schweren Erkrankung ein sehr glücklicher Mann, und das verdanke ich Euch.

Falls unter Euch eines von diesen kleinen Weicheiern sein sollte, die es ab einem gewissen Stadium meiner Krankheit nicht mehr fertig brachten mich zu besuchen oder auf eine andere Art und Weise zu kontaktieren, keine Bange, ich bin nicht sauer auf Euch. Einer ist eben so und der andere so.

Katrin, Richard, Benjamin und Elain, Euch hätte ich sehr gerne dieses Martyrium der Trauer erspart, doch zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir eine Nuss gereicht, die ich nicht knacken konnte. Doch wenn es so sein sollte, daß es hinter dem Horizont weiter geht, verspreche ich Euch, daß wir uns wiedersehen.

In den letzten 3 Monaten hattest du es nicht einfach mit mir, Mutter. Ich bin in vielen Dingen sehr anspruchsvoll und deshalb haben wir uns hin und wieder in die Haare bekommen. Ich war mindestens genauso oft ruppig zu Dir, wie Du zu mir. Du hast mir trotz Deines Alters und Deiner vielen Sorgen dennoch viel geholfen. Dafür danke ich Dir.

Maike und Peggy, Ihr wart am Ende bei mir und habt dafür gesorgt, daß mir das Abschiednehmen nicht so schwer fällt. Danke, ich umarme und küsse Euch dafür.

So, nun Prost, vergeßt mich nicht so schnell.......

Euer Freund Wrangler

Zürich, den 17.01.2004, 02.00 Uhr



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